«Die erste STOP AIDS-Kampagne ist heute noch weltweit ein Vorzeigemodell für erfolgreiches Social Marketing.»
Feb. 2015Health Communication
Social Marketing in der Gesundheitskommunikation. Wie können Menschen durch soziales Marketing erreicht und zu Verhaltensänderungen angeregt werden, welche Kampagnen sind dafür in welchem Bereich sinnvoll und erfolgreich? Ein «spectra»-Gespräch mit der Expertin Christiane Lellig, Mitgründerin der European Social Marketing Association und ehemaligem Vorstandsmitglied der International Social Marketing Association.
spectra: Was ist Marketing für Social Change?
Christiane Lellig: Beim klassischen Marketing geht es darum, das Kaufverhalten für ein bestimmtes Produkt zu beeinflussen. Beim Marketing für Social Change geht es darum, diese bekannten Marketingtechniken auf andere Verhaltensweisen zu übertragen. Wir wenden insbesondere den analytischen Ansatz hinter dem strategischen Marketing an und betrachten die Verhaltensweisen, die in einer Gesellschaft auftreten, als Markt. In diesem Markt gibt es verschiedene Akteure, die einander gegenseitig beeinflussen. Hier ist viel systemisches Denken gefordert.
Kann man mit Social Marketing tatsächlich einen sozialen Wandel erreichen?
Nein, mit Marketing allein nicht. Aber das strategische Marketing gibt uns ein Gerüst, an dem wir uns beim Denken und Vorgehen orientieren können. Wir müssen uns zum Beispiel zuerst überlegen, auf welcher theoretischen Grundlage wir arbeiten wollen oder können. Es gibt verschiedene Verhaltenstheorien für unterschiedliche Bereiche wie Umwelt oder Gesundheit. Die gewählte Theorie zeigt auf, welche Elemente analysiert werden müssen, um ein bestimmtes Verhalten zu erklären bzw. beeinflussen zu können. Zum Beispiel, welche Art von Nullmessung wir machen müssen, um herauszufinden, wie sich die Leute heute verhalten, und welche Einflussfaktoren auf dieses Verhalten wir berücksichtigen müssen. Das strategische Marketing ist für uns also ein Analyseleitfaden. Es sagt uns aber nicht, welche Interventionen wir konkret einführen müssen, um das gewünschte Verhalten in der Gesellschaft herbeizuführen. Dazu wiederum geben uns Experimente und Studien aus der Sozialpsychologie allenfalls Anhalt, den Rest müssen wir selbst komponieren und messen. Es gibt kein Schema X. Ein bestimmtes Verhalten lässt sich nicht verkaufen wie ein Schokoriegel. Social Marketing ist um einiges komplexer als klassisches Produktmarketing, und die Themen sind oft schwer greifbar.
Können Sie uns ein Beispiel geben, in dem mit Social Marketing ein messbares Ergebnis erzielt wurde?
In Florida hat man lange versucht, mit Gesundheitsbotschaften die Jugendlichen vom Rauchen abzuhalten, mit relativ wenig Erfolg, wie in vielen andern Ländern auch. Mit der «Truth Campaign» hat sich das geändert. Man hat zuerst geschaut, was die Leute in diesem Alter wirklich bewegt, was sie interessiert. Diese Analyse hat nicht viel Überraschendes gezeigt: Junge Menschen rebellieren gerne, um sich gegen Eltern, Lehrer oder das Establishment aufzulehnen.
«Ein bestimmtes Verhalten lässt sich nicht verkaufen wie ein Schokoriegel.»
Rauchen ist für diese Jugendlichen ein Mittel, diese Auflehnung auszudrücken, im Sinne von «Ich bin selbst erwachsen, ich habe alles unter Kontrolle». Mit der «Truth Campaign» hat man den Jugendlichen klar gemacht, dass sie mit dem Rauchen genau das Gegenteil tun: Sie stützen das Establishment und finanzieren das Leben der superreichen Tabakbosse. Das hat sehr gut funktioniert. Die Kampagne wird heute in 46 Staaten modifiziert weitergeführt.
Klingt relativ einfach. Warum machen das nicht alle so?
Das hat politische und verwaltungstechnische Gründe. Um eine Social-Marketing-Kampagne für die Öffentlichkeit fahren zu können, muss man oft erst eine interne Kampagne in der eigenen Organisation oder in anderen Departementen durchführen. Social-Marketing-Kampagnen betreffen ja oft Themen, die mehrere politische Bereiche tangieren. Wenn Public-Health-Kampagnen aus strategischen Gründen, wie die ursprüngliche «Truth Campaign», keine Gesundheitsbotschaft mehr enthalten, wird es meist schwierig. Das kann unter Umständen zu Widerständen von anderen politischen Bereichen führen, die womöglich sagen: «Das ist nicht euer Ressort», oder ganz simpel wird in der Öffentlichkeit die Präsenz des Amts vermisst. Social-Marketing-Kampagnen bedürfen deshalb einer guten Zusammenarbeit und Absprache verschiedener politischer Bereiche.
Gibt es eine Kampagne des Bundesamts für Gesundheit (BAG), die man als Social-Marketing-Kampagne bezeichnen kann?
Die aktuelle HIV/STI-Kampagne ist ein gutes Beispiel. Es passiert viel auf der medialen, sichtbaren Schiene. Die Plakate sind sehr provokativ und stimulieren die öffentliche Diskussion. Dieses Erfolgszeichen ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Das Wichtigste läuft im Hintergrund, so zum Beispiel die Beratungsangebote und die Zusammenarbeit mit Kantonen und NGOs. Diese Verzahnung ist wichtig. Die erste Stop Aids-Kampagne ist heute noch weltweit ein Vorzeigemodell für erfolgreiches Social Marketing. Ein Zeichen dieses Erfolges ist, dass die Kondome in den Supermärkten von den Schmuddelecken an die besten Verkaufspunkte an der Kasse vorgerückt sind.
Gibt es andere Kampagnen des BAG, die Ihnen besonders Eindruck gemacht haben?
Die Tabakkampagnen der 2000er-Jahre finde ich sehr interessant. Das ist ein Paradebeispiel, um aufzuzeigen, dass man nicht nur mit einem Ansatz fahren darf. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat man damals mittels entsprechender Analysen festgestellt, dass die Zeit reif ist für ein Gesetz zum Schutz der Nichtraucher. Folglich wurde der Weg einer politische Kampagne eingeschlagen, um das Gesetz durchzubringen. Mit einem Gesetz ist natürlich vieles einfacher als über den Weg der individuellen freiwilligen Verhaltensänderung. Das war ein sehr cleverer Zug zum richtigen Zeitpunkt. Das heisst nicht, dass das bei allen anderen Themen auch so funktioniert. Man muss aber das ganze Instrumentarium auf dem Schirm haben und gekonnt nutzen, vom Zwang über die «Bestechung» bis zur Freiwilligkeit – etwas lapidar ausgedrückt. Der Zwang wäre ein Gesetz, das das gewünschte Verhalten vorschreibt. Unter «Bestechung» liessen sich finanzielle oder andere Anreize des Steuerinstrumentariums subsumieren. Social Marketing wäre im Bereich freiwilliger Verhaltensänderung anzusiedeln. Bei der Schweizer Tabakprävention der 2000er-Jahre war es – aus meiner Sicht – eine gute Mischung von allem.
Ist das Bilden einer Community eine Voraussetzung für das Funktionieren einer Social-Marketing-Kampagne?
Es ist auf jeden Fall hilfreich, speziell im so genannten «Community-Based Social Marketing». Das ist bei Umweltpsychologen sehr populär. In einer Community ist es einfacher, sich über das erwünschte Verhalten zu einigen und Entscheidungsfindungsprozesse zu lenken. Das BAG geht jetzt auch in diese Richtung, in dem es in praktisch allen wichtigen Präventionsbereichen Foren und Gremien gebildet hat, in denen die Kantone sowie andere Stakeholder eingebunden sind. Es ist wichtig, dass sich die Experten über das richtige und das falsche Verhalten in einem Bereich einig sind. Andernfalls fehlt es an Glaubwürdigkeit – und ohne Glaubwürdigkeit funktioniert gar nichts.
Wird auch die Zielgruppe bei der Entwicklung von Kampagnen einbezogen?
Im besten Falle schon. Suzanne Suggs, die an der Universität Lugano Social Marketing lehrt, hat beispielsweise zusammen mit amerikanischen Kollegen eine Alkoholkampagne für Jugendliche lanciert, die gemeinsam mit der Zielgruppe entwickelt wurde. Zentrales Element der Intervention ist ein SMS-Service für gute Ausreden, warum man keinen Alkohol trinkt. Die Analyse hatte gezeigt, dass viele Jugendliche, die eigentlich gar nicht übers Mass hinaus trinken wollen, sich nicht getrauen, dies in der Gruppe ehrlich zu sagen und durchzuziehen. In einer solchen Situation können Jugendliche eine gute Ausrede per SMS anfordern. Zum Beispiel «Ich habe morgen eine Prüfung» oder «Alkohol besteht aus den gleichen Elementen wie ein Furz».
«Dank der STOP AIDS-Kampagen sind Kondome von den Schmuddelecken an die besten Verkaufspunkte an der Kasse vorgerückt.»
Die Ausreden wurden von Studenten im Rahmen der Konzeptphase entwickelt. Daneben gibt es auch Tipps für Alternativen und Fakten zu «Underage Drinking», die über den SMS-Service angefordert werden können. Solche partizipativen Ansätze sind – unabhängig vom Behaviour- Change-Ansatz – mittlerweile in allen Bereichen und auf allen Ebenen weit verbreitet, was sehr gut ist. Denn letztendlich handelt es sich immer um Gesellschaftsthemen, und die Gesellschaft muss entscheiden, was sie will.
Was ist der Unterschied zwischen Social Marketing und Business Marketing?
Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Ethik. Im Social Marketing kann man nicht alle Mittel anwenden, in der Privatwirtschaft ist man freier. Ein zweiter grosser Unterschied liegt in der Komplexität, denn Verhaltensweisen sind viel schwieriger zu beeinflussen als Kaufentscheide. Allein die Zugangskanäle zur Zielgruppe sind viel schwieriger zu definieren. Ein dritter Unterschied liegt im Budget. Social-Marketing-Kampagnen müssen meistens mit wenig Geld auskommen. Allerdings schaut sich das moderne Produktmarketing heute auch viel vom Social Marketing ab. Beim Vermarkten von Produkten sind nicht mehr nur Emotionen, sondern auch gesellschaftliche Verantwortung und Glaubwürdigkeit wichtig. Grosse Konzerne fangen nun also auch an, das Verhalten und nicht nur den Kaufentscheid der Konsumenten zu beeinflussen. Das ist einerseits toll, andererseits kann es aber auch gefährlich sein, wenn Unternehmen immer tiefer in den Privatbereich der Menschen eingreifen und diese manipulieren. Auch für den Social Marketer wäre es in gewissen Bereichen natürlich einfacher, wenn er es mit den sogenannten Bovine Consumers zu tun hätte, also mit Menschen, die wie einer Rinderherde einfach der Leitkuh hinterhertrotten. Aber dies würde dem eigentlichen Interesse des demokratischen Staates widersprechen, der die Mündigkeit und Selbstbestimmung der Bürger fördern will. In Zukunft müssen Marketer Menschen wieder weniger als reine Konsumenten und viel mehr als Bürger wahrnehmen, die ihre Rechte zunehmend wieder einfordern. Zu dieser Entwicklung haben auch die Sozialen Medien beigetragen, wo wir per Klick sagen können, was uns gefällt und was nicht.
Wo sind Kommunikationskampagnen in der Welt des Social Marketing anzusiedeln?
Das klassische Marketing besteht aus einem Mix an Massnahmen in den vier P-Bereichen: Produkt, Preis, Platzierung und Promotion. Ganz grob kann dies so auf das Social Marketing übertragen werden. Kommunikationskampagnen gehören demgemäss zum Bereich Promotion, sind also nur einer von vier Bereichen, die bearbeitet werden müssen, um erfolgreich zu sein. Es gilt zu definieren, wer die Zielgruppe ist, was sie bewegt, wo die Hindernisse zum erwünschten Verhalten liegen und so weiter. Ausserdem muss man entscheiden, auf welchen Kommunikationskanälen man sie erreichen will – über die Massenmedien oder über den Direktkontakt. Entscheidend erscheint mir jedoch, dass man in Zukunft stärker fokussiert und weniger nach dem «gerechten» Giesskannenprinzip die Kommunikation über die Gesamtbevölkerung «streut».
Was ist bei Kommunikationskampagnen wie denen des BAG sinnvoller?
Das hängt vom Ziel der Kampagne ab. Ist Information der Gesamtbevölkerung das Ziel, sind Massenmedien eine sehr gute Sache. Wenn jedoch die Verhaltensänderung einer gewissen Gruppe das Ziel ist, taugen massenmediale Kampagnen wenig. Die Botschaften werden so unspezifisch, dass sich niemand wirklich angesprochen fühlen kann und man die Zielgruppe nicht erreicht.
«Heute werden die Menschen im Marketing immer weniger als Konsumenten und viel mehr als Bürger mit Rechten wahrgenommen.»
Allerdings kann es trotz dieses so genannten Streuverlustes sinnvoll sein, für Verhaltenskampagnen Massenmedien zu nutzen. Vor allem, um Politikern, Stakeholdern und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man in einem bestimmten Bereich aktiv ist. Sich sichtbar zu machen, gehört zum Spiel, auch wenn es auf der Verhaltensebene nicht wirksam ist.
Das BAG hat den Auftrag, mit seinen Informationskampagnen im Gesundheitsbereich die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu steigern. Ist das überhaupt möglich?
Das ist schwer abzuschätzen. Denn zwischen Wissen und Handeln besteht kein direkter Zusammenhang. Wer viel weiss, verändert nicht unbedingt auch sein Verhalten. Umgekehrt kann jemand wenig über die gesunde Lebensweise wissen und trotzdem gesund leben oder sich positiv verhalten. Ich denke aber, massenmediale Kampagnen wirken zumindest unterstützend, wenn es um die allgemeine Gesundheitskompetenz geht.
Kennen Sie Beispiele von Kampagnen, die belegen können, dass sich die Investition gelohnt hat?
Ja, es gibt Social-Marketing-Kampagnen, die diesen so genannten Return on Investment belegen können. Es wurde vor allem im angelsächsischen Bereich sehr viel Geld in die Wirkungsforschung investiert, um zu beweisen, dass das Geld gut investiert ist.
Sie kommen aus der Praxis. Welche Rolle spielt Theorie für Sie?
Mit Theorie beschäftige ich mich eigentlich nur am Anfang, wenn ich mir überlege, welche Handlungsmodelle ich meiner Analyse zugrunde lege, um alle wichtigen Faktoren zu erfassen. Alles andere ist schon Empirie, also Praxis. Insbesondere, wenn ich die Intervention plane. Brüte ich diese allein am Schreibtisch aus oder zusammen mit anderen Behaviour-Change-Experten, werden sie bestimmt nicht gut. Ich muss zumindest mit einer Fokusgruppe arbeiten oder eine andere qualitative Methode anwenden, um herauszufinden, wie die Zielgruppe tickt und wie man sie erreichen kann. Je näher, desto besser. Das ist pure Praxis. Ausprobieren, verwerfen, etwas Neues ausprobieren. Es ist sehr wichtig, immer eine Feedbackschlaufe einzurichten, um eine Kampagne auch nach der Lancierung nochmals nachbessern zu können. Der Austausch mit der Zielgruppe und mit den Mittlern und Multiplikatoren, die diese sehr gut kennen, ist sehr wichtig. Ansonsten generiert man schnell etwas, das nur auf einen selbst oder die eigenen Vorurteile passt.
«Eine saubere Analyse und Strategie sind wichtig, aber nicht alles lässt sich steuern und absehen. Ohne Pragmatismus, Intuition und spontane Planänderungen kommt man nicht voran.»
Beim Social Marketing haben wir es immer mit sehr komplexen Sachverhalten zu tun. Das erfordert ein entsprechendes Vorgehen, ähnlich dem Management komplexer Projekte. Konkret heisst dies, dass nicht alles planbar und linear steuerbar ist. Ganz wichtig ist Intuition, die sich aus der Erfahrung speist. Deswegen bringt man bei Social-Marketing-Projekten am besten verschiedene erfahrene Menschen zusammen, strategische Denker ebenso wie kreative Gefühlsmenschen, auf deren Bauchgefühl wir nebst aller Analyse vertrauen können. Eine saubere Analyse und Strategie sind wichtig, aber nicht alles lässt sich steuern und absehen. Ohne Pragmatismus, Intuition und spontane Planänderungen kommt man nicht voran.
Wie sehen Sie die Zukunft von Social Marketing?
Ich denke, man wird in Zukunft noch sehr viel mit behavioristischen Ansätzen arbeiten, und zwar inter- und transdisziplinär: Umweltspezialisten arbeiten mit Gesundheitsfachleuten und Fachleuten für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zusammen. Die haben alle ähnliche Zielgruppen und ähnliche Fragen zu deren Verhaltensmotiven. Die Zusammenarbeit würde das Gesamtverständnis darüber fördern, was die Menschen antreibt und wie man sie zu einer freiwilligen Verhaltensänderung bewegen kann. Ich sehe grosses Potenzial in der Zusammenarbeit verschiedener Departemente. Das ist heute noch sehr schwierig, muss sich aber in Zukunft ändern. Das Beispiel der österreichischen Initiative «Wachstum im Wandel» zeigt, wie schwer es ist, eine Zusammenarbeit über verschiedene Ministerien und Ressorts zu lancieren, und – noch viel wichtiger – wie dies möglich und fruchtbar ist. Eine solche Zusammenarbeit bringt nebst allen politisch-organisatorischen Schwierigkeiten budgettechnische Vorteile. Plötzlich hat man eben nicht mehr drei, sondern allenfalls zehn Millionen zur Verfügung und kann ganz andere Geschichten fahren.
Unsere Gespärchspartnerin
Zur Person: Christiane Lellig, Jahrgang 1975, ist Mitgründerin der European Social Marketing Association und der International Social Marketing Association. Daneben führt Sie eine eigene Agentur für Social Change in Südengland und war viele Jahre als Beraterin im Marketing von Social Change tätig, für nationale Kampagnen sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz.